„Welche Themen werden im Zuge der Digitalisierung aus Ihrer Sicht in den nächsten 5 Jahren einen großen Einfluss auf Hochschulen haben?“ hatte das Hochschulforum Digitalisierung gefragt. Um diese Frage zu beantworten, musste ich für mich selber gedanklich ein wenig ausholen. Und weil ich mich gerade öfter mal an Visualisierungen versuche habe ich den Post auch mit „graphischen Elementen“ angereichert.

Hochschulen differenzieren sich aus und existieren in einem zunehmend unsicheren Umfeld. Am wahrscheinlichsten ist daher eine „Politik der kleinen Schritte“

TEICHLER hatte 2002 fünf Bereiche benannt, in denen er Prognosemöglichkeiten für die Hochschulentwicklung ausgemacht hatte

  1. Expansion der Bildungsbeteiligung,
  2. Differenzierung der Hochschullandschaft,
  3. Steuerungsprobleme in der Organisation der Hochschule,
  4. Internationalisierung des Hochschulwesens und
  5. Komplexitätszunahme in der Hochschulorganisation.

15 Jahre später kann man  feststellen, dass a) diese Palette der Megatrends nach wie vor gültig ist und b) neue Anforderungen hinzugekommen sind, beispielsweise

  • der Ruf nach Kulturwandel und Erneuerung der Lehre (vgl. Wissenschaftsrat 2017),
  • die zunehmende Heterogenität der Studierendenschaft (vgl. ENQA 2015),
  • die Stärkung demokratischer und humaner Werte (vgl. Oliver Reis auf der dghd-Tagung 2017),
  • die Bewältigung der Folgen von nationalen Abgrenzungspolitiken, Migrationsbewegungen nach Zentraleuropa und neue Gewalttätigkeit (vgl. einen Blick in Zeitungen und Nachrichten).
  • Und natürlich die Digitalisierung, die mit neuer Dringlichkeit „von ganz oben“ thematisiert wird.

Wenn ich versuche, diese Phänomene hinsichtlich ihrer Wirkung auf die Hochschulen auf einen Nenner zu bringen, scheint mir die „Differenzierung“ das allgemeine Bewegungsmuster zu sein. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass auf die diversen, drängenden und stellenweise existentiellen Herausforderungen an die Hochschulen die vielen unterschiedlichen Ausgangslagen und Zielsetzungen zu verschiedenen Bewältigungsstrategien und Handlungsperspektiven führen werden. Damit eng verbunden dürfte ein Zustand sein, der sich in Zeiten beschleunigten Wandels (wann war der eigentlich mal langsam?) und im Hinblick auf komplexe, schwer steuerbare Einheiten ebenfalls eine normale Reaktion sein dürfte: Verunsicherung. Daraus dürfte eine Minderung der Risikobereitschaft folgen und im wahrscheinlichesten Fall eine Strategie der „kleinen Schritte“.

Wie verbreiten sich technologische Neuerungen? Das Diffusionsmodell nach ROGERS

Um die Verbreitung technologischer Innovationen besser zu verstehen sind zwei Modelle hilfreich: Die „Diffusion von Innovationen“ nach ROGERS und der „Hype-Cycle technologischer Innovationen“ nach FENN (auch als „Gartner-Hype-Cycle“ bekannt).

Nach ROGERs teilen sich die Akteure bei der Verbreitung technologischer Neuerungen in zwei gleiche Hälften: Die ersten 50% beinhalten die „Early Adopters“ und die „Early Majority“ also die „Innovator*innen“ und diejenigen, die in den Neuerungen einen Nutzen für sich erkennen können, wobei sie mit einer gewissen Risikobereitschaft ausgestattet sind, die auf dem Vertrauen auf die innovativen
Anwender*innen basiert. Die zweite Hälfte der Anwender*innen teilt sich in „Late Majority“ und „Leggars“ ein. Für beide gilt, dass sie sich erst dann bewegen, wenn es wirklich nicht anders mehr geht.
In der Studie „Monitor Digitale Bildung, Hochschulen im digitalen Zeitalter“ ist vor einigen Monaten festgestellt worden, dass ca. die Hälfte der Angehörigen von Hochschulleitungen und Mitarbeiter*innen der Hochschulen der Digitalisierung der Lehre skeptisch gegenüber stehen. Es ist nicht unplausibel, die „Digitalsierungskeptiker“ in der zweiten Hälfte der Anwendertypen nach ROGERS zu verorten. Allerdings stehen die Skeptiker*innen unter einem nicht unerheblichem Druck. Sich der „Bildung 4.0“ gänzlich zu verschließen scheint angesichts der massiven Interessen aus der Bildungspolitik fast unmöglich. Was wird man also als Hochschulleitung klugerweise machen? Man wird sich an die Themen heranwagen, die bereits von der „Early Majority“ übernommen worden sind. Nach ROGERS sind es diejenigen Handungsoptionen deren

  1. Nutzen nachgewiesen worden ist, die
  2. anschlussfähig an bestehende Praxis sind und für die
  3. eine ausreichende Erfahrungsbasis existiert.

Für diese Themen gilt, dass sie ein geringes Risiko des Scheiterns darstellen, damit gewinnt man zwar keine Innovationspreise aber man setzt sich auch nicht dem Verdacht aus, sich dem Fortschritt zu widersetzen.

Wie  lässt sich Technologieentwicklung abschätzen? Der Hype-Cycle technischer Innovationen nach FENN

Das FENN-Diagramm beschreibt ursprünglich, wie sich der Aufmerksamkeitsgrad für eine (technische) Innovation im Laufe der Zeit entwickelt. Das Modell unterscheidet fünf Phasen:

  1. Innovation Trigger,
  2. Peak of Inflated Expectations,
  3. Trough of Disillusionment,
  4. Slope of Enlightenment und das
  5. Plateau of Productivity.

Im Grunde zeigt die Kurve einen „Einpendelvorgang“ bei dem auf einen kräftigen Impuls hin die Kurve erst stark in die eine Richtung ausschlägt („Gipfel der überhöhten Erwartungen“), dann die Gegenbewegung fast ebenso kräftig einsetzt („Tal der Enttäuschung“) um sich schließlich auf einem höheren Niveau als dass der Ausgangsituation zu stabilisieren („Plateau der Produktivität“). Durch die Beratungsfirma Gartner wird alljährlich ein „Hype-Zyklus für das Bildungswesen“ („Hype Cycle for Education“) erstellt. Neben der schlichten Eleganz ist das Modell wohl auch so populär, weil es sich in der Wirklichkeit immer wieder zu bestätigen scheint. Die Innovationen werden mit ihren Möglichkeiten erprobt, dann werden weitergehende Möglichkeiten und Verbindungen entdeckt und Wirkungsweisen antizipiert. Mit der breiter werden Anwendung werden aber auch Schwierigkeiten deutlich, nicht-antizipierte Wirkungen sichtbar. Wenn Möglichkeiten und Erwartungen sich annähern und die Kinderkrankheiten verschwinden können sich stabile Szenarien entwickeln und kann die Technologie produktiv genutzt werden. In dieser Phase werden neue Technologien auch für die „Late Majority“ interessant.

Die Top-Themen sind nicht innovativ, sondern nutzbringend und erprobt

Ich definiere „Einfluss“ nicht als „Aufmerksamkeit“ sondern meine, dass zur Abschätzung des Einfluss auch der Grad der Verbreitung gehört. Einen „Einfluss auf die Hochschulen“ werden also weniger die innovativsten, neuesten Technologien haben, sondern diejenigen, die sich am schnellsten in der Fläche der Hochschullandschaft verbreiten. Dabei gehe ich davon aus, dass ein spürbarer Einfluss erst dann entsteht, wenn sich deutlich mehr als die Hälfte der potentiellen Anwender*innen einer Technologie zuwenden, wobei ich als „Anwender*in“ jeweils eine ganze Hochschule betrachte, nicht die Individuen die darin agieren. Aufgrund dieser Vorüberlegungen komme ich zu folgender, priorisierter Liste:

Videoinhalte

Die Aufzeichnung von Vorlesungen oder eigens produzierte Lehrmedien im Video-Format haben bereits eine stürmische Verbreitung erfahren. Hardware und Software sind heute, nicht zuletzt auch durch die Verbreitung von Tablets, erschwinglich und können mit ein wenig Übung ansehnliche Ergebnisse produzieren. Der Erklär-Clip auf Youtube erfreut sich bei Hersteller*innen wie Nutzer*innen wachsender Beliebtheit. Sicherlich ist es und bleibt es weiterhin so, dass wirklich gute Inhalte immer einen entsprechenden Aufwand bedeuten, andererseits hat das Video – zumindest wenn es nicht in High-End-Qualität vorliegen muss – ein unschlagbar gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis oder anders gesagt: Mit Video kann am weitaus günstigsten Content hergestellt werden der in diversen Lehr-Lern-Arrangements flexibel genutzt werden kann.

E-Assessment, im engeren Sinn „E-Prüfungen“

Die ersten großen Testcenter sind jetzt teilweise bereits seit Jahren in Betrieb. Die Erfahrungen sind überwiegend positiv. Die rechtlichen Fragen scheinen so weit  geklärt und in der Praxis bewähren sich die Formate und Settings. Die Nachfragen von Lehrenden mehren sich.  Getrieben wird die Entwicklung von hohen Studierendenzahlen und vermehrten Prüfungsaufwand durch Modularisierung. In der Skalierung lassen sich sogar ökonomische Vorteile erahnen und die Akzeptanz bei Prüflingen und Lehrenden ist hoch.

E-Portfolio

Auch E-Portfolios haben, relativ unbemerkt, einen steilen Aufstieg hingelegt. Mit MAHARA steht eine reife, freie Plattform zur Verfügung, in der Lehrer*innenbildung ist die Portfolioarbeit flächendeckend (?) curricular verankert. E-Portfolio-Plattformen in ihrem jetzigen Erscheinungbild stellen den nächsten technologischen Schritt nach den hierarchisch organisierten Learning-Management-Systeme dar und machen die Prinzipien des Web 2.0 für Lehr-Lernszenarien im geschützten „Bildungsraum Hochschule“ verfügbar. In mehr und mehr Lehr-/Lernszenarien, insbesondere wenn Kompetenzorientierung deutlicher hervorgehoben werden soll, wird das Portfolio zur ergänzenden oder zentralen E-Learning-Plattform.

Mobile Anwendungen, Apps auf Smartphone und Tablet

Die App-Technologie hat zwar die Bildung nicht revolutioniert, für begrenzte Anwendungsbereiche machen die mobilen Programme aber einen guten Job. Apps und Mobile Webseiten werden für Audience-Response-Systeme (alternativ zum „Clicker“-System) eingesetzt, diverse Spielarten von Quiz- und Karteikarten-Apps sind verfügbar (und warten oftmals auf Inhalte und Nutzer*innen). Die Hochschul-App, vorrangig als mobiles Informations- und Service-Portal verstanden, ist eine sinnvolle Ergänzung für die Informations- und Kommunkationsstruktur der Hochschschulen (Mensaplan!). Apps machen hier nicht nur Sinn, sie sind außerdem bezahlbar und beim Publikum äußerst beliebt.

Cloud-Dienste

Ein paar Hochschulen (z.B. die Uni Potsdam) und die Planungen zur „Schulcloud“ zeigen es: Die Nutzung von „Software as a Service“ und von Online-Speichern ist auch für Bildungseinrichtungen machbar. Es erfordert allerding schon ein einigermaßen handlungsfähiges und experimentierfreudiges Rechenzentrum um einen Cloud-Dienst für eine Bildungsinstitution anzubieten. Das ist nicht nur eine Frage von Infrastruktur und Dienste-Architektur, sondern auch von Sicherheit. Da holt der ein oder die andere IT-Verantwortliche schon mal tief Luft…  Die Risiken scheinen aber beherrschbar, die Vorteile hingegen immens und überdies für jeden leicht nachvollziehbar, die Unabhängigkeit von kommerziellen Anbietern und Bedingungen sind ein wirkliches Argument. Daher dürften auch die Cloud-Dienste ein heisser Kandidat für eine Technik sein, die sich bald an Hochschulen weiter verbreitet.

Blended Learning als Substitution von Präsenzlehre

Blended Learning ist keine Technik aber ein Kind der Digitalisierung. Gemeint sind E-Learning-Szenarien, in denen die computerunterstützen Anteile (in der Regel online) didaktisch-methodisch in das Lehr-/Lernsetting integriert und obligarisch zur Erreichung der Lehrziele sind. In aller Regel bedeutet das aber nicht, dass Präsenzanteile der Lehre dadurch ersetzt werden, die weitaus häufigste Nutzungweise dürfte in der Anwendung zwischen den Präsenzterminen liegen. Andererseits ist vielfach erprobt und auch belegt, dass gut gemachte Online-Szenarien den Präsenzsituationen in punkto Lernwirksamkeit, Kompetenzentwicklung und Studienleistungen in Nichts nachstehen. Gleichwohl ist die aktive Nutzung von Online-Szenarien anstelle von Präsenzlehre noch ein wirkliches Innovationspotential. Die Technologie dafür ist schon länger bekannt, die Umsetzung hängt von der Beweglichkeit der Lehrenden und der Hochschulleitungen ab, solche Lehr-/Lernarrangement als Regelfall zu akzeptieren. Die Diskussion um das Lehrdeputat – als Regelungsaufgabe oder als Aufgabe für eine neue Praxis – wird uns jedenfalls in den kommenden Jahre stärker beschäftigen.

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